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Der Älplervirus

Themen > Diverses > Sepp Scheuber

4.August 2017 SARGANSERLAND 5
von Michael Kohler
Der Älplervirus und
ein Leben für die Tiere
Marlis und Urs verbringen ihren siebten Sommer auf der Bad Ragazer Alp Halde. Bei einem Besuch im Rahmen der Serie «Alpgeschichten» verraten sie, warum sie lieber 100 Kühe um sich haben als zehn Menschen. Und auch, warum auf der Alp Halde bei der Abenddämmerung nie der Betruf ertönt.



Es war im Februar vor sieben
Jahren, als Marlis und Urs
mit den Pizolbahnen nach
Pardiel fuhren, um die Alp
Halde auf Geheiss des Alpmeisters
zu suchen und zu begutachten.
Nach einigen Sommern auf der
Alp Mastrils am Calanda war für sie
die Zeit gekommen, um auf einer anderen
Alp die Abwechslung zu suchen.
Bei «stockdichtem» Nebel irrten sie
von der Bergstation Richtung Bad Ragaz
– damals noch ohne «Streicheltelefon
». Als sich der Nebel lichtete und sie
nach langer Suche endlich das Alpkreuz
und schliesslich auch die Hütte
erblickten, stimmte das Bauchgefühl.
Das Paar entschied sich, hier einen Alpsommer
zu verbringen.
Mittlerweile nennen Marlis und Urs
die Alp hoch über Bad Ragaz ihr Zuhause.
Jährlich kommen sie anfangs
Juni hier hoch, um 100 strenge, aber
ausgewogene Tage mit ihren 70 Kühen,
25 Schweinen und zwei Pferden zu verbringen.
«Die beiden Pferde gehören
mir», erklärt Marlis. Als Bauerstochter
und Käserin mit eidgenössischem
Fachzeugnis habe sie schon immer
einen Draht zu den Tieren und ihren
Milchprodukten gehabt. Aufgewachsen
in Maienfeld – «ennet em Rhii» –, verbringt
die 38-Jährige bereits ihren
15. Sommer z’Alp. Und sie ist noch
nicht müde. Noch lange nicht.
«Es ist wie ein Virus»
Jedes Jahr im Mai beginnt das Kribbeln
bei Marlis. Dann kann sie es kaum
erwarten, endlich wieder z’Alp zu gehen.
«Eigentlich verlasse ich die Alp im
Herbst nur, um zu warten, bis der Frühling
und die Alpzeit wieder kommen»,
erklärt sie. Und auch ihre Freunde würden
ihr im Frühling ans Herz legen,
dass es schon langsam wieder Zeit werde,
z’Alp zu gehen. «Ich weiss nicht warum,
aber wenn ich zu lange unten im
Tal bin, werde ich angespannt und giftig.
» Das Älplerleben sei wie ein Virus,
und sie sei mehr als nur infiziert. Ein
Jahr ohne Alpsommer gibt es bei ihr
nicht. «Ich würde eher den Winter im
Tal aufgeben als den Sommer auf der
Alp.»
Ähnlich geht es ihrem Freund Urs.
Der 35-jährige Appenzeller verbringt
seinen 13. Sommer z’Alp. Nach einer
Anlehre als Käser und der Ausbildung
zum Bauern verbringt er den Winter
als Käsereiangestellter im Tal, um im
Sommer wieder sein eigener Herr und
Meister auf der Alp Halde zu sein. Er ist
für die Kühe verantwortlich, sie macht
den Käse. «Aber eigentlich gibt es hier
nichts, was wir nicht gemeinsam machen.
» Schliesslich gehe es hier oben
nur miteinander, die Tiere mit eingeschlossen.
«Sie sind wie meine Goofen»
Dass Urs und Marlis alle ihre Tiere
beim Namen kennen, ist für sie beide
eine Selbstverständlichkeit. Nicht nur,
weil der Grossteil des Viehs bereits
mehrere Jahre auf Halde gesömmert
wird. Es gehe darum, ein Verhältnis zu
jedem Tier aufzubauen. Schliesslich
sind die Älpler auf die Kühe angewiesen
wie die Kühe auf die Älpler. «Sie
sind wie Mitarbeiter, meine Goofen»,
versucht Marlis die Verbindung zu den
Kühen zu erklären.
Sobald Marlis zu erzählen beginnt,
merkt man sofort: Mit Tieren kann sie
es einfach. «Besser als mit Menschen»,
ergänzt sie. Sie würde lieber 100 Viecher
um sich haben als zehn Menschen.
Das sei schon immer so gewesen.
«Mit den Tieren ist es ein Geben
und ein Nehmen. Unverfälscht, ohne
Lüge, die pure Wahrheit. Du gibst ihnen
Sicherheit und Liebe, sie geben dir
ihr Vertrauen.» Deshalb nehmen sich
Urs und Marlis trotz der langen
Arbeitstage – Tagwache ist um 2.15
Uhr, Feierabend um 19 Uhr – auch einmal
die Zeit, um mit den Tieren ein
wenig zu verweilen, sie zu verwöhnen.
Oft bis in die Nacht hinein.
Dann können auch die beiden ein
wenig zur Ruhe kommen und in sich
gehen. Einen Betruf brauchen Marlis
und Urs darum nicht. «Wir fühlen uns
der Natur in diesem Moment mehr
verbunden, als wenn wir vor ein Kreuz
stehen und immer denselben Vers hinunterbrabbeln.
»
Mehraufwand für die Schwachen
Einen Stall für das Vieh gibt es auf Alp
Halde nicht. Dafür aber einen mobilen
Melkstand. Zweimal täglich melken
Urs und Marlis die Tiere direkt auf der
Weide. Das bedeutet zwar eine Menge
Arbeit für die Älpler, die Tiere danken
es aber mit Gehorsam. «Sie wissen
mittlerweile, wie der Hase läuft», erklärt
Urs. Weideabschnitte halten die
Älpler bewusst klein. Auch das sei mit
mehr Arbeit und einer guten Organisation
verbunden. Dafür bekommen
aber auch die langsameren Tiere frisches
Gras, und nicht nur noch die abgemähten
Flächen der schnellen. «So
schaffen wir für jede Kuh die gleiche
Ausgangslage», erklärt Urs.
Zu schlagen brauchen die beiden
das Vieh nicht. Es gehorche bereits seit
Beginn des Alpsommers ihren Stimmen.
Wenn Marlis einmal lauter werde,
würden die Kühe schon merken:
«Oh, jetzt ist die Chefin wieder sauer»,
scherzt die Älplerin. Aber wie könnte
sie auch, wird sie doch ihre Angestellten,
ihre «Goofen», ab September wieder
unglaublich vermissen. Und zwar
so lange, bis sie zurückkehren kann in
ihre wirkliche Heimat auf Alp Halde.

 
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